Wenn das Eis schmilzt!

Unverarbeitete Traumata holen jeden Menschen ein! Die Frage ist nur, wann und wie?
EMDR in der Arbeit mit Erfahrungen von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch

Im Magazin des VFP (Verband Freier Psychotherapeuten …) 01.2018 hat mich der Artikel – Irgendwann fängt es in der Tiefkühltruhe an zu tauen – besonders angesprochen, denn das Bild deckt sich mit meinen eigenen Praxiserfahrungen.

Unsere Psyche ist darauf geprägt, Erlebnisse zu verarbeiten, sie in irgend einer Art und Weise griffig zu machen, um damit abschließen zu können. Gelingt das, löst sich das Thema Stück für Stück aus unserem bewussten Denken; es ist verarbeitet.

„Ist es der Seele aber nicht möglich, ein Erleben zu verarbeiten, weil es zu tief greifend oder zu schrecklich war, wird das Thema in die …“psychische Tiefkühltruhe“ im Keller gepackt – vorerst. Das Geschehen ist weder verarbeitet noch verschwunden. Aber es nervt nicht mehr.“

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Doch irgendwann fängt es in dieser „psychischen Tiefkühltruhe“ an zu tauen und das kann ganz unterschiedliche Gründe haben.
„Depressionen und Angststörungen entstehen auffallend häufig bei Menschen zwischen 30 und 35 Jahren … Job, Familie, Leben haben sich stabilisiert, alles läuft mehr oder weniger solide, die Seele hat wieder Kapazitäten und versucht, böse alte Geschichten zu verarbeiten.“

In den mittleren 50-er Jahren wird dann oft eine kritische Zwischenbilanz des Lebens gezogen. So langsam kehrt im Leben Ruhe ein – „die Kinder sind aus dem Gröbsten raus, die Scheidung ist bewältigt, der eigene Karriereplan sieht keine großen Sprünge mehr vor.“ Mitunter steht aber auch noch einmal ein großer Umbruch an, bei dem alle Lebensbereiche in Frage gestellt werden. „Das gibt der Psyche aufs Neue die Gelegenheit, die symbolische Tiefkühltruhe im Seelenkeller zu öffnen und mit den Teilen darin zu hantieren.“ Selbst danach öffnen sich immer wieder solche „Seelenfenster“.

„Die Seele spürt längst: Immer mehr Energie wurde verbraucht, um die erforderlichen Minusgrade aufrechtzuerhalten. Energie, die der aktuellen Lebensbewältigung nicht zur Verfügung steht. Und deshalb möchte sie aufräumen und ausmisten.“

Erfahrungen von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung im ewigen Eis?

Unverarbeitete Traumata holen jeden Menschen ein – Die Frage ist nur wann und wie? Das WANN passt gut zu den davor beschriebenen Altersgruppen.
Bleibt also die Frage nach dem WIE, gerade wenn die traumatischen Erfahrungen sehr weit zurück liegen; Kleinkind- und Kindesalter oder auch Jugendalter. Beide Geschlechter sind betroffen; sowohl als Opfer, als auch als Täter.

Beginnt das Eis zu schmelzen, zeigt sich das, was dort über Jahre und Jahrzehnte tiefgefroren wurde, in der Regel versteckt als körperliche Reaktion.
Das können zum Beispiel Panikattacken sein, die sich über die Zeit zu einer Panik- und Angststörung auswachsen. Das Leben ist massiv beeinträchtigt.

„Geh Du vor“ sagt die Seele zum Körper, „auf mich hört er nicht. Vielleicht hört er auf Dich.“ „Ich werde krank werden, dann wird er Zeit für Dich haben“, sagte der Körper zur Seele.

Es kann aber auch sein, dass eine Person in das Leben der oder des Betroffenen tritt, beruflich oder privat, deren Verhalten eine extreme Gegenreaktion auslöst, die weit über eine Antipathie hinaus geht; der Körper reagiert.

 

In den seltensten Fällen wird von selbst eine Verbindung zu dem Trauma der Vergewaltigung oder des sexuellen Missbrauchs hergestellt.
Bei entsprechender Sensibilisierung auf therapeutischer Seite stellt sich aber oft sehr schnell das eigentliche Thema heraus.

Das erfordert sehr viel Mut und Vertrauen auf seiten der Betroffenen, denn jetzt geht es genau darum, das Trauma aus dem Eis heraus zu lösen. Ein Thema, das man glaubte gut im Griff zu haben. Oft sind diejenigen, die einem das angetan haben schon tot oder der Kontakt wurde abgebrochen. Im Griff haben ist hier aber leider gleich zu setzen mit Verdrängung.

Die Reaktionsmuster in der aktuell störenden Situation gleichen denen, die man früher als Kind angewandt hat, z.B. – so gut es geht den Kontakt vermeiden – sich unsichtbar machen, nett und höflich sein – nur keinen Anlass für Verärgerung geben.

EMDR in der Arbeit mit Erfahrungen von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch

EMDR steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing.
Die Beobachtung, dass Emotionen von den ihnen ursprünglich zugeordneten Ereignissen oder Situationen entkoppelt werden können, bildet die Grundidee von EMDR.

Ausgelöst durch Augenbewegungen oder andere bilaterale Stimulation (akustisch oder kinästhetisch) kann im Gehirn die Verbindung von Reiz und Reaktion getrennt werden. Damit wird das subjektive Belastungsempfinden verändert und die zuvor als negativ erlebten Emotionen neutralisiert.

Ausgangspunkt

Mitunter ist das Aussprechen, in Worte fassen der Ursprungssituation überhaupt das erste Mal, dass Betroffende sich mitteilen. Oder es ist ein erstes mal, nachdem man die Erfahrung machen musste, früher nicht gehört worden zu sein. Da können oft schon 20, 30 oder 40 und mehr Jahre dazwischen liegen.

Die Grundlage der Arbeit mit EMDR liegt genau darin, das Erlebnis so klar wie möglich zu beleuchten. Dabei werden alle Sinne angesprochen, bis hin zu Gerüchen – vielleicht ist ein Geruch von Rasierwasser, Parfüm oder Alkohol hängen geblieben. Therapeutisches Resonanzvermögen führt mit dazu, dass insbesondere auch das Körpergedächtnis angesprochen wird, wirklich alle Schwingungen im Körper lokalisiert und fühlbar gemacht werden. Es gleicht in Momenten dem konkreten Erleben der Ursprungssituation.

So wird dann der schlimmste Moment aus dem an sich schon Unfassbaren herausgearbeitet. Mit dem Versuch, das Geshehene/ den schlimmsten Moment als mehr oder weniger abstraktes Bild zu visualisieren und zu beschreiben tun sich Betroffene oft schwer.

die negative Kognition – wie hat man sich in der Situation gefühlt

In den meisten Fällen fühlen sich Betroffene – ausgeliefert, hilflos, wehrlos, wertlos.

die positive Kognition – wie wäre man gerne gewesen?

Diese Frage ist im ersten Moment oft schwer zu beantworten, da die Vergewaltigung, der Missbrauch gar nicht erst hätte passieren dürfen. Dennoch findet man hier genau die Ressourcen bzw. Kräfte und Stärken, die gerne aktiviert worden wären. Ressourcen, die einem jetzt als Erwachsener sehr viel eher auch zur Verfügung stehen, bzw. vorstellbar sind.

Ich bin in meiner Stärke!
Ich halte meine Grenze!
Ich bin wehrhaft!
Ich bin in meiner vollen Präsenz!

So oder so ähnlich wird eine klare Vorstellung von dem erarbeitet, wie man heute reagieren würde.

bilaterale Stimulation

Die Situation selbst, der schlimmste Moment daraus in Verbindung mit dem Bild, der negativen und positiven Kognition und dem körperlichen Fühlen all dessen sind die Basis, auf der jetzt die Arbeit mit der bilateralen Stimulation ansetzt. In der Regel geschieht das über die Augenbewegung.

Es kann sein, dass sich anfangs unangenehme Empfindungen verstärken bzw. neue hinzu kommen. In der Folge passiert dann aber zum Beispiel folgendes:

Grauenvolle Bilder verblassen in den Farben, werden nebelhaft, verschwimmen in den Konturen, lösen sich auf.

Druckempfindungen im Bereich des Herzen und des Brustkorbs allgemein, in Verbindung mit flacher, beschleunigter Atmung, lösen sich Stück für Stück. Der Körper wird als leichter, durchlässiger, im Fluß empfunden. Die Atmung bekommt  mehr Raum, wird tiefer und ruhiger bis hin zu einer gelassenen Bauchatmung. Der Herzbereich und/oder andere Bereiche werden wohlig warm.

Kontraktionen im Becken werden weicher, entkrampfen und lösen sich. Mitunter wird das Becken als solches – eine Schale in Fülle – überhaupt erst einmal so klar wahr genommen. Ein Gefühl, im ganzen Körper verbunden und in einer energetischen Fülle zu sein, stellt sich ein. Selbst das Gefühl, sich wieder sauber bzw. rein zu fühlen kann eine Ergebnis solch einer Sitzung sein.

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Das Ergebnis

Gerade die Wahrnehmung, das Erleben der positiv veränderten körperlichen Gefühle führt in eine neue Lebenskraft und Lebensfreude. Trotz der Anstrengung einer solchen Sitzung, wirken Gesichtzüge sehr viel weicher, Augen glänzen und strahlen vor Glück. Diejenigen strahlen eine viel stärkere Präsenz aus, als noch am Beginn der Arbeit.

In der Folge wird davon berichtet, dass bestehende Beziehungen als erfüllter wahrgenommen werden; auch im Bereich der Sexualität. Neue Beziehungen können auf einer viel authentischeren Basis eingegangen werden. Das Trauma ist kein Tabuthema mehr; es kann freier darüber gesprochen werden.

Panik- und Angsstörungen bzw. Attacken lösen sich auf.

Das Gefühl, von einer Last befreit worden zu sein, ein Stein von der Seele genommen zu haben, beflügelt so wunderbar. Für die einen ist es wirklich so etwas wie ein Befreiungsschlag. Für andere ist es ein elementar wichtiger Schritt auf dem persönlichen Weg, dem Weg zum eigenen ICH.

Irgendwann fängt es in der Tiefkühltruhe an zu tauen und das ist gut so, denn mit einer freien bzw. freieren Seele lebt es sich sehr viel leichter.

Anke Mehrholz



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