overloaded – wenn die Sinne überfordern – Es ist die Zeit des großen Glücks: Nach über neun Monaten des Wartens, Hoffens und manchmal auch Bangens liegt das neue Familienmitglied zufrieden schlafend im neu eingerichteten Kinderzimmer. Die frisch gebackenen Eltern sind stolz und überglücklich. Oder doch nicht?
Was, wenn der kleine neue Erdenbürger schreit, schreit, schreit und sich nicht bzw. nur extrem schwer beruhigen lässt. Die wichtigsten Grundbedürfnisse sind gestillt und dennoch kommt das kleine Wesen nicht zur Ruhe. Irgendwann greift das auf alle über, Schlafmangel, Streß, Gereitztheit, Verzweiflung sind die Folge. Schnell gesellt sich das Gefühl dazu, dem Kind nicht gerecht werden zu können; vielleicht sogar, keine gute Mutter zu sein.
Oft wird solch ein Erleben gleich in die Schublade „Schreikind“ gesteckt. Die junge Mutter wird unter Umständen massiv mit vermeintlich gut gemeinten Ratschlägen überhäuft; bishin z.B. dem Druck hier mit einem minutiös fest geregelten Tagesablauf einwirken zu können. Oft zeigt sich aber genau das Gegenteil und die Verzweiflung wächst. Mitunter wird sogar eine postpartale Depression vermutet bzw. unterstellt.
Schreikind oder hochsensibel?
Nur einmal angenommen, sie haben selbst eine sehr hohe Reizwahrnehmung, was heutzutage unter dem Begriff Hochsensibilität eingeordnet wird. Dann sind bereits eine Schwangerschaft, ggf. auch die begleitende Auseinandersetzung mit eigenen herausfordnernden Lebenssituationen und natürlich die Geburt selbst extrem starke Momente von Reizüberflutung. Verstärkt durch gesellschaftlich geprägte Erwartungshaltungen an eine glückliche Mutter- bzw. Elternschaft, die oft verstärkt wird durch den eigenen Perfektionsanspruch, erleben heute viele junge Mütter kaum noch den ursprünglichen Wert des Begriffs „Wochenbett“. Das „Wochenbett“ wäre also eine Zeit, um sich ausruhen zu dürfen, selbst gepflegt und „aufgepäppelt“ zu werden und dabei in einem ruhigen, geschützten Raum für das Baby da sein zu können. Also genau das, was gebraucht wird, um das eigene Reizlevel abzusenken.
Und nur einmal angenommen, das kleine Wesen ist selbst auch „hochsensibel“. Bei Hochsensibilität handelt es sich um einen – scheinbar angeborenen – Persönlichkeitszug. So ein kleiner neuer Erdenbürger bringt also bereits die Ausprägung der besonderen Reizwahrnehmung und Reizverarbeitung mit.
Als erwachsener Mensch ist es oft schon sehr schwer, mit diesem Wesenszug; den Herausforderungen aber auch darin liegenden Stärken umzugehen. Wie soll es denn so einem kleinen Baby gehen in seiner bestehenden Abhängigkeit? Die einzige Kommunikationsform ist im Moment das Schreien.
Doch die Bedürfnisse dieses Kindes sind absolut andere!
Was ist eigentlich Hochsensibilität?

Folgende Definition beschreibt das Phänomen sehr gut: „Hochsensibilität bezeichnet eine im Vergleich zur Mehrheit der Menschen deutlich höhere Empfindlichkeit gegenüber äußeren und inneren Reizen aufgrund eines veranlagungsbedingt besonders leicht erregbaren Nervensystems. Das bringt eine subtilere, umfangreichere, nuancenreichere und intensivere Wahrnehmung mit sich; ebenso eine ausgeprägte Feinfühligkeit, eine höhere emotionale Reaktivität und eine gründlichere und komplexere Informationsverarbeitung.
Damit einher gehen ein früheres Erreichen eines Zustands der Überstimulation und ein längeres Nachklingen des Erlebten. Hochsensibilität ist ein fest verankertes, unabänderliches Persönlichkeitsmerkmal, das bei 15-20 % der Menschen, Männern wie Frauen, auftritt.“ (Ulrike Hensel, Mit viel Feingefühl, 2014)
Das Thema Hosensibiltät bekommt immer mehr öffentliche Wahrnehmung. Viel wird darüber publiziert.
Dennoch bekommt es an so wichtigen Stellen wie Therapie, Schule, Kindergarten, Kinderarzt noch zu wenig Aufmerksamkeit, was mitunter zu Fehleinschätzungen, ungünstigen Behandlungen aber auch Auseinandersetzungen mit den betroffenen Eltern führt.
Viel zu schnell geraten diese in den Verdacht, ihr Kind überbehüten und es zu stark vor der Welt beschützen zu wollen. Oder es wird sogar unterstellt, dass sie ihr Kind für ganz besonders halten. Sie brauchen also viel Selbstbewußtsein, Verbundenheit mit den eigenen Ressourcen und ein sprichwörtlich „dickes Fell“.

Woran erkenne ich ein hochsensibles Baby?
Babys sind per se sehr empfindlich mit einer sehr niedrigen Frustrationstoleranz. Wenn ein Kind unter Reizüberflutung leidet, kann es in der Regel abschalten und schläft einfach ein. Ein hochsensibles Baby ist dagegen anders. Sie merken es an einer deutlichen Abwehr gegenüber Geräuschen, Licht, Stoffen oder auch anderen Personen. Mitunter nimmt es Reize wahr, die sich Ihnen als Erwachsener selbst gar nicht erschließen.
Experten orientieren sich an folgenden Eigenschaften, um Hochsensibilität bei einem Baby zu erkennen:
– Das Baby beobachtet viel, was in seiner Umgebung vor sich geht.
– Es nimmt sehr früh Kontakt zu seiner Umwelt auf.
– Das Baby wirkt unruhig und unausgeglichen.
– Einschlafen und Durchschlafen fallen sehr schwer.
– Es ist äußerst schreckhaft und reagiert bereits auf kleinste Geräusche.
– nervöses und abwehrendes Verhalten auf grelle Farben und Licht
– Das Baby reagiert sehr empfindlich auf Lärm.
– Es scheint Stimmungen anderer Menschen sehr schnell wahrzunehmen.
– starkes klammern an der Mutter
– Es mag keine fremden Menschen, bzw. nur bedingt.
– Das Baby scheint häufig einfach „abzuschalten“.
– sehr viel stärkere Schmerzempfindlichkeit
– sehr starke Gefühlsausprägung mit oft plötzlich/unerwarteten Ausbrüchen
Was benötigen hochsensible Babys?
In dem Buch „Hochsensible Kinder – Wenn die Sinne (überfordern)“ gibt der Autor einen sehr handlungs- und lösungsorientierten Überblick zu den einzelnen Bereichen. Die Bedürfnisse werden hier den einzelnen Themen zugeordnet:
- Babys Zuhause
- Baby und fremde Personen
- Baby und seine Langeweile
- Baby und die Neugier
Wann und wo es auch immer möglich ist, sollten Reize jeglicher Form reduziert werden. Respektieren sie das Kind in seiner Wesensart. Das gilt insbesondere auch für Verwandte oder fremde Personen. Hochsensible Kinder/ Babys brauchen viel mehr emotionale und soziale Stabilität. Sie können sich nur schwer auf neue Kontakte einlassen und dazu zählen dann eben auch Oma und Opa …
Sicher benötigen diese Babys eine feste Struktur. Vertrauen Sie dabei aber vermehrt Ihrer Intution, wieviel Freiraum diese Struktur braucht. Dichte Terminfolgen z.B. sind für alle Stress.
Hochsensible Kinder brauchen deutlich mehr Ihre Anwesenheit, gerade auch in Momenten, wo es sich nur schwer aus einer Überflutung an Reizen erholen kann, was durchaus einem Wutausbruch ähneln kann. Nähe steht in diesem Fall im absoluten Fokus. Gleiches gilt auch beim Schlafen. Wenn es Ihnen und Ihrem Baby mit dem sogenannten „Ammenschlaf“ (direkt bei Ihnen) gut geht, gönnen Sie sich diese Nähe.
Wie für jeden hochsensiblen Menschen sind Veränderungen auch für Babys nur sehr schwer zu verarbeiten. Veränderungen werden als eine Störung der gewohnten Sicherheit wahrgenommen. Insofern benötigen auch hochsensible Babys ein hohes Maß an Geduld.
Der Autor bringt es auf den Punkt: Hochsensible Babys benötigen Wertschätzung und Respekt!
Raus aus der eigenen Kraft/Intuition oder Postpartale Depression?
Es freut mich, dass die Arbeit von Schatten und Licht e.v. immer bekannter wird. Der Verein ist eine Selbsthilfe-Organisation zu peripartalen psychischen Erkrankungen. Wir möchten betroffenen Frauen und deren Familien eine Hilfe an die Hand geben, um die herausfordernde Zeit, die sie erleben, leichter zu bewältigen.
Bei der Einschätzung zum Thema postpartale Depression unterstützt der Fragebogen zur PPD-SelbsteinschätzungEdinburgh-Postnatal-Depression-Scale , auf den auch schon immer mehr Hebammen zurückgreifen.
Doch wie bei jedem Fragebogen sollte auch hier die Auswertung und Reaktion mit Augenmaß erfolgen. Gerade bei hochsensiblen Frauen ist die reaktive Punktzahl von 12 schneller erreicht und dennoch muss nicht sofort mit einer Klinikeinweisung interveniert werden. Das kann mitunter sogar kontraproduktiv und absolut angstverstärkend wirken. Ein niederschwelliger Beratungseinstieg über die Fachberater, führt oft schon zu einer großen Entlastung.

Dieser Beitrag hat natürlich einen Impuls aus meiner Praxis.
Es berührt mich zutiefts zu sehen, mit welch großem Engagement einige Eltern sich mit dem Thema auseinandersetzen, um so Ihren Kindern den bestmöglichen Rahmen für ein Leben mit Hochsensibilität zu schaffen. Mit der Annahme dieses Wesensmerkmals und der entsprechenden Reaktion darauf gehen oft sehr zeitnah Entspannung, Gelassenheit und eine tiefe Bindung einher.
Am Ende ist das Leben mit einem (hochsensiblen) Kind auch eine wunderbare Einladung, in das eigene Wachstum zu gehen.
Anke Mehrholz