„Der allein gebliebene Zwilling“ ein Buch von Peter Bourquin und Carmen Cortés
Am 14. Januar 2017 postete radioeins auf seiner facebook-Seite einen Aufruf, der auf der Idee des australischen Journalisten Ben Cubby beruht :
„Greif dir ein Buch in deiner Nähe und schlage die Seite 117 auf. Der zweite Satz ist dein Leben 2017“
In Gedanken war ich bereits bei diesem Artikel. Das Buch „Der allein gebliebene Zwilling“ stand mir zu diesem Zeitpunkt also am nächsten. Der zweite Satz auf Seite 117 lautet: „Manchmal mache ich mich auf in der Hoffnung, meine Zwillingsseele zu finden, suche auf der Welt und denke: Ich weiß, dass du irgendwo bist und ich wünsche dir alles Gute…“
Eigentlich wäre das ein schöner Abschlußsatz. Nun gibt er den Einstieg in ein spannendes wie auch sehr bewegendes Thema.
Der verschwundene Zwilling
Wie kann ein Fötus verschwinden? Die meisten Verluste finden wohl im ersten Drittel der Schwangerschaft statt. Zu dieser Zeit wird der kleine Fötus oder Embryo mit sehr großer Wahrscheinlichkeit von der Plazenta oder Gebärmutter absorbiert – er verschwindet „spurlos“
Zu einem späteren Zeitpunkt, so etwa ab dem vierten/fünften Monat kann es passieren, dass die Körperflüssigkeit des Fötus vom Körper der Mutter aufgenommen wird. Dadurch wird der Fötus zu einem sogenannten Fetus Papyraceus, einem mumifizierten Fötus, der in der Regel durch den mechanischen Druck in der Gebärmutter plattgedrückt wird.
In der Mehrheit der Fälle geht der Fötus oder Embryo im ersten Schwangerschaftstrimester verloren. Er wird vom mütterlichen Organismus resorbiert und hinterlässt keine oder kaum sichtbare Spuren; bleibt unbemerkt, wenn man nicht ganz bewußt danach suchen würde.
„Auf jedes Zwillingspaar kommen mindestens zehn Personen, die ihre Entwicklung als Zwillinge begannen und ihr Geschwister während der Schwangerschaft verloren haben. Wenn wir bedenken, dass die Häufigkeit der Mehrlingsgeburten in Deutschland Anfang der 90er Jahre bei rund einem Prozent lag, können wir davon ausgehen, dass die Anzahl der allein gebliebenen Zwillinge rund 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen.“ Diese Zahl dürfte sich, gerade im Hinblick auf die Zunahme der künstlichen Befruchtungen, deutlich erhöht haben.
Unser Wissen darüber, was sich im Uterus abspielt, hat sich in den letzen Jahrzehnten sehr stark weiterentwickelt. Längst ist widerlegt, dass ein Fötus kaum etwas fühlt, er sich in einem bewusstseinslosen Dämmerzustand befindet und sein Leben erst im Moment der Geburt beginnt. Hierauf bin ich auch in meinem vorhergehenden Artikel eingegangen – DIE SEELE fühlt von Anfang an – . Fakt ist, dass alles in dieser ersten Phase Erlebte eine tiefe und dauerhafte Auswirkung auf unser gesamtes Leben hat und diese Phase beginnt schon mit dem Zeitpunkt der Befruchtung.

Was das Thema des allein gebliebenen Zwilling so bewegend macht ist insbesondere die Betrachtung aus psychologischer Sicht.
Bevor man sich aber dieser zuwendet ist der Blick auf die Formen von Gedächtnis wichtig. „Wenn wir von Lernen reden, reden wir vom Gedächtnis. Man kann nur etwas lernen, wenn es ein Gedächtnis gibt, das dies möglich macht, da wir aus registrierten Erfahrungen lernen.“ In diesem Kontext, bezieht sich das oft zuerst auf das Gedächtnis, das vom Gehirn und vom Zentralnervensystem registriert und gespeichert wird. Doch das ist nicht das einzige Gedächtnis, über das wir und damit auch Embryo und Fötus verfügen.
Ausgehend davon, dass jede lebendige Zelle über ein Gedächtnis als Mittel zur Informationsverarbeitung verfügt, gibt es ein sogenanntes zelluläres Gedächtnis/ Körpergedächtnis.
Der englische Psychiater Dr. Ronald Laing wird wie folgt aus seinem Buch „Die Tatsachen des Lebens“ zitiert: „Ich registriere meine Umgebung von Beginn des Lebens an. Was den ersten ein oder zwei Zellen von mir zustößt, vibriert durch alle folgenden Generationen. Die erste trägt alle meine genetischen Erinnerungen. Es erscheint mir zumindest glaubhaft, dass all unsere Erfahrungen von Zelle eins absorbiert und von Beginn an gelagert werden, vielleicht gerade im Anfang besonders intensiv.“ Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass die Erfahrungen aus dem ersten Drittel der Schwangerschaft die prägendsten sind.
Leben beginnt mit der Empfängnis
In dem Moment, wo ein Baby das Licht der Welt erblickt, besitzt es bereits eine Vergangenheit; eine Vergangenheit von bestenfalls neun Monaten. „Egal wie die Bedingungen und Vorkommnisse dieser ersten Lebensphase waren, jeder von uns macht viele weitere Erfahrungen. Es kann sein, dass manche dieser vorgeburtlichen Erfahrungen verstärkt werden oder auch nicht. Auf jeden Fall hinterlassen sie eine Prägung, die ein auslösender Faktor für die sogenannten Grundgefühle zu sein scheinen: jene Gefühle, die uns im Laufe unseres Lebens dauerhaft begleiten. Sie sind wie eine Hintergrundmusik, der wir kaum Beachtung schenken, die aber ununterbrochen spielt und uns nachhaltig beeinflusst.“
Zwillinge
Nur soviel – Zwillinge verbindet die engste zwischenmenschliche Beziehung überhaupt.
Diese Beziehung geht oft sogar weit über die Bindung zur Mutter hinaus. „Sehr oft beschreiben Zwillinge die intrauterine Beziehung zu ihrem Geschwister als verschmelzende Erfahrung: Im Kontakt zum anderen fühlen sie sich ganz, die vorherrschenden Gefühle sind Liebe und geteiltes Glück, und sie befinden sich in einem zeitlosen Zustand, der ewig anzudauern scheint.“
zu zweit allein – ein Zwilling geht
Mit dem Tod des Zwillinggeschwisters ändert sich plötzlich alles. „Diese Veränderung beginnt, wenn sie wahrnehmen, dass es dem anderen nicht mehr gut geht, er zu wachsen aufhört, sein Herz schwächr schlägt. In der Folge nimmt das Gefühl der Sorge, Unruhe und Alarmbereitschaft zu. Der Moment, in dem das Zwillingsgeschwister stirbt, ist dramatisch. Der überlebende Zwilling erlebt den Tod aus nächster Nähe. Er versteht nicht, was vor sich geht …“
Der nun allein gebliebene Zwilling reagiert entweder mit dem Gefühl, sein eigenes Leben ist in Gefahr, mit dem Zustand der Panik. Schließlich auf der Welt, begleitet ihn das Gefühl, stets wachsam und unruhig zu sein, Daueranspannung, da jederzeit etwas Bedrohliches passieren kann.
Oder er verfällt in einen Schockzustand; fast einer Erstarrung nahe kommend. Er wird Gefühle der Verzweiflung, Trauer, des Verlassenseins und fehlenden Lebenswillen in sich tragen.
Der allein gebliebene Zwilling hat den für ihn nächsten und wichtigsten Menschen verloren. Obwohl er später heranwächst und sein eigenes Leben führt, trägt er die Spuren dieser pränatalen Erfahrung in sich. Je nach dem, wie sich sein späteres Leben gestaltet, werden die Folgen dieser Erfahrung verstärkt oder gemildert.
Zwillingsspuren
Welche Spuren bzw. Eindrücke hinterlässt der verschwundene Zwilling in der Psyche des allein gebliebenen Zwillings? Was macht es so wichtig, sich diesem Thema zu nähern und insbesondere auch von ähnlich wirkenden Dynamiken bzw. Symptomen zu unterscheiden?
- Sehnsucht nach etwas Verlorenem, etwas, dass weder im Jetzt noch in der Zukunft gefunden werden kann. Es kann sein, dass sie ein Leben lang auf der Suche sind und versuchen das zu finden, was ihnen fehlt, was ihr Leben wieder ausfüllt – eine unstillbare Sehnsucht.
- da ist diese Leere, etwas oder jemand fehlt – Diese Leere existiert auch, wenn man scheinbar alles in seinem Leben hat, wie Job, Partner, Kinder usw..
- ein Gefühl der Einsamkeit, selbst wenn man gut eingebunden ist in Familie, Freundschaft usw.
- Melancholie oder Traurigkeit – sie ist immer da im Hintergrund, auch wenn sie in glücklichen Phasen kaum wahrnehmbar ist. Das kann unter Umständen auch die Form grundloser tiefer Trauer bis hin zur Depression annehmen. „Eine weiter Folgeerscheinung ist, dass der überlebende Zwilling in einer Art Verwirrung lebt und ihm in seinem Innern nicht klar ist, welcher der beiden … er ist: der tote oder der lebendige. … Es ist als ob er mit einem Bein im Leben stünde und mit dem anderen an einem fernen Ort, der, obwohl er es nicht weiß, bei seinem verstorbenen Zwilling ist.“ Das kann zu spontanen Stimmungsschwankungen führen. Eben noch sprüht man voller Energie und im nächsten Moment ähnelt das Erleben fast der Depression.
- Schuldgefühl – ich bin schuld am Tot meines Zwillings. In der Umkehrung kann sich das auch in einer übertriebenen Verantwortung für das Wohlergehen aller zeigen.
- Zorn und Wut – beinahe kindlich „Du hast mich allein gelassen, ich bin total wütend auf dich!“
- Gefühl, anders zu sein; oft verbunden mit einer sehr hohen Sensibilität und großen empathischen Fähigkeiten.
- Gefühl, sich das Leben verdienen zu müssen – im Arbeitsleben heisst das, dass sie oft für zwei arbeiten; ohne aber den Erfolg auch wirklich wahrnehmen und genießen zu können – Burnoutgefahr!
- schwer Loslassen können, gerade auch in Partnerschaften. Das Klammern in einer Beziehung kann dann so weit gehen, dass eine eigentlich längst erloschene Beziehung weitergeführt wird, oft über mehrere Jahre, weil es dem allein gebliebenen Zwilling fast unmöglich ist, sich zu trennen und Abschied zu nehmen.
Die große Mehrheit der allein gebliebenen Zwillinge macht die Entdeckung erst sehr spät in ihrem Leben, oft erst im Erwachsenenalter und meist im Zusammenhang mit einer Therapie – was natürlich voraussetzt, dass auch auf Therapeutenseite dieses Thema bekannt ist. Oft gingen dem bereits intensive und auch lange Prozesse voraus, bei denen die zuvor genannten Gefühle, Empfindungen, Reaktionen nie ganz verschwunden sind.
Die Entdeckung, ein allein gebliebener Zwilling zu sein ist also von großer Relevanz. Es ist wie das Finden des letzten fehlenden Puzzleteils. Jetzt machen plötzlich bisher zusammenhanglose und unerklärliche Erlebnisse und Gefühle einen Sinn. Und das wichtigste ist, dass dieser Moment der Beginn eines Integrations- und Heilungsprozesses sein kann.
Vom Verlust zur Integration
Es ist zweifelsohne ein sehr bewegender, irritierender und aufwühlender Moment, wenn man z.B. in der körperorientierten Therapie plötzlich seinem Zwilling begegnet – realisiert er ist tot – der Geist will das nicht erfassen – doch dann lässt der Körper eine grundtiefe Trauer los, wird geschüttelt und ist in Tränen aufgelöst.
Manchmal braucht es dann Zeit, bis sich wieder neue Bilder und „Erinnerungen“ lösen, vielleicht über Monate hinweg in sich immer klarer zu deutenden Träumen. Träume in denen sich in ganz unterschiedlichen Konstellationen ein zweites Baby zeigt, tot. Das kann sich soweit entwickeln, dass man im Traum sogar sieht, ob man einen Zwillingsbruder oder auch eine Zwillingsschwester an seiner Seite hatte.
Selten gibt es die Bestätigung durch einen definitiven biologischen Nachweis. Doch am Ende weiß man selbst am besten um die Wahrheit seiner Lebensgeschichte, zumindest getragen durch die Zellerinnerung/ das Körpergedächtnis. Den Zwilling anzuerkennen hilft, um sich in der Folge von ihm abgrenzen und damit in die eigene Identifaktion gehen zu können. Es kann hilfreich sein, seinem Zwilling einen Namen zu geben; ihn vielleicht auch in einem Ritual loszulassen. Damit kann man sich auch einen Ort schaffen, an dem sich die Verbundenheit zu seinem Zwilling auf besondere Weise spüren lässt und so vielleicht zum Kraftort werden kann.
Die Autoren bringen es auf den Punkt: Der Weg führt Schritt für Schritt vom „Ich bin ein allein gebliebener Zwilling“ hin zu „ICH BIN“ und damit zu einer wiedergewonnenen Freiheit.
Anke Mehrholz
„Ich weiß, dass du irgendwo bist und ich wünsche dir alles Gute…“